Es ist 07:45 Uhr. Mia wird von ihrer Mutter in die Kita gebracht. Das kleine Mädchen hustet und hat glasige Augen. Still lummert sie auf dem Arm der Mutter. Mias Mama trägt Businesskleidung und ist im Stress. Eilig setzt sie ihre Tochter auf die Bank vor den Kleiderhaken. Dann zieht sie Mia schnell Jacke und Schuhe aus und die Hausschuhe an. Sie stellt Mia auf die Füße und schiebt das sonst so quirlige Mädchen in die Froschgruppe. Simone, Mias Erzieherin, erkennt auf den ersten Blick: Mia ist krank.
Kommt es in Ihrer Einrichtung vor, dass Eltern offensichtlich kranke Kinder bringen? Wenn ja, Sie sind nicht allein. In Trainings höre ich das immer wieder. Und die Fälle scheinen sich zu häufen.
Simone kann es nicht glauben. Sie fühlt Mias Stirn: schwitzig warm. Dann schaut sie fragend Mias Mama an. Sie bestätigt, dass Mia wohl eine kleine Erkältung habe. Aber das sei nichts Schlimmes. Sie gibt ihrer Tochter einen Abschiedskuss, wünscht Simone einen schönen Tag und geht.
Simone ist fassungslos. „Wie dreist ist das denn?!“ denkt sie sich. „Wie kann die Mutter das ihrer Tochter antun? Wie kann die Mutter das den anderen Kindern antun? Und wie, verdammt noch mal, kann die Mutter das ihr und ihren Kollegen antun?“ Diese Gedanken werden Simone den ganzen Tag begleiten. Genauso wie der Ärger, der Situation so hilflos ausgesetzt zu sein. Welche Bedürfnisse sind bei Simone nicht erfüllt? Vermutlich Gesundheit für sich, die Kinder und Kollegen; vielleicht auch Fairness im Sinne von Gleichwertigkeit – wenn die anderen Kinder krank werden, haben deren Eltern Morgen ein Betreuungsproblem; vielleicht ist es auch Rücksichtnahme.
Simone nimmt Mia auf den Arm und setzt sich mit ihr auf einen Stuhl. Mia kuschelt sich an sie. Gegen 11:00 Uhr glüht Mia. Simone ruft Mias Mutter an: Sie möge ihre Tochter bitte abholen.
Ob sich jemand bei Mia angesteckt hat? Kaum zu sagen. Aber eine Quarantäne-Station hat die Kita nicht.
Das Thema ist heikel und hoch emotional. Heikel, da Ihnen als pädagogische Fachkraft oft objektive Kriterien fehlen. Wann ist ein Kind krank? Sobald das Kind Fieber hat oder sich erbricht, ist es einfach. Dafür gibt es klare Richtlinien. Aber wenn es „nur“ eine Erkältung ist? Emotional ist es, weil Eltern heute oft in der Klemme sind. Die Sorge davor als Mutter bzw. Vater im Job als nicht voll einsatzfähig zu gelten, oder gar den Job zu verlieren, lässt den Eltern vermeintlich keine Wahl.
Was können Sie tun?
- Machen Sie sich Ihre eigenen Grenzen bewusst. Mit welchen Symptomen sind Sie bereit, ein Kind aufzunehmen, mit welchen nicht?
- Scheuen Sie sich nicht vor dem Elterngespräch. Es geht um Ihre Bedürfnisse. Sorgen Sie für sich!
- Vorformulieren Sie in den vier Schritten der Gewaltfreien Kommunikation (GFK), was Sie einem Elternteil, das ein Krankes Kind bringt, sagen möchten.
- Üben Sie in einem Rollenspiel, was Sie sagen, wenn ein krankes Kind gebracht wird, um nicht überrumpelt zu werden. (Ja, ich weiß, für viele sind Rollenspiele unangenehm – gleichzeitig sind sie das beste Mittel, sich gut vorzubereiten.)
Hier ein Beispiel, was Simone Mias Mama schon am Morgen hätte sagen können:
Simone: Frau Wagner, Mia hustet, hat eine warme Stirn und ist sehr still. Ich mache mir Sorgen. Zum einen um Mia. Ich kenne sie so gar nicht. Zum anderen, weil es mir wichtig ist, dass alle hier in der Kita gesund bleiben. Bitte nehmen Sie Mia heute wieder mit.
Frau Wagner: Na, es ist doch nur eine Erkältung. Ich muss jetzt wirklich los.
Simone: Sie haben einen wichtigen Termin?
Frau Wagner: Ja, ich habe gleich eine Präsentation bei einem wichtigen Kunden.
Simone: Ich kann das gut verstehen. Sie möchten, dass man sich auf Sie verlassen kann und der Kunde zufrieden ist?
Frau Wagner: Ja klar. Wenn ich den Termin ausfallen lasse, gibt das richtig Ärger.
Simone: Ich verstehe Sie, Frau Wagner. Gleichzeitig bin ich für alle Kinder verantwortlich. Und wenn sich andere Kinder anstecken, haben Morgen deren Eltern ein Problem. Nehmen Sie Mia bitte wieder mit.
Frau Wagner: Na toll. Und was soll ich jetzt tun?
Simone: Ich sehe, Sie sind in einer Notlage. Ich mache Ihnen einen Vorschlag. Sie lassen Mia eine Stunde bei mir. Das gibt Ihnen Zeit, Dinge zu regeln. Spätestens um 09:00 Uhr holen Sie sie wieder ab. Einverstanden?
Es gibt viele Möglichkeiten, wie das Gespräch verlaufen kann. Es geht nicht darum, zu gewinnen. Es geht um eine gute Lösung.
Selbst wenn Simone Mia doch dabehält – nach einem konstruktiven Gespräch wird es Simone besser gehen. Kein Ärger wird Sie den Tag über lähmen. Vielleicht weil sie Mias Mama besser verstehen kann. Vielleicht weil sie für sich gesorgt hat. Auf jeden Fall hat Simone die Situation aktiv mitgestaltet. Statt hilflos ist sie nun entspannt. Und vielleicht ist, ganz nebenbei, ein Elterngespräch auf Augenhöhe eine kleine Sternstunde für Simones Selbstvertrauen.
Bleiben Sie dran. Es lohnt sich!
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